Lesen ist die Grundlage für fast alles

Gedanken zur der Schweizer Schulabgänger

Schweizer Jugendliche zeigen Mühe, einfache Texte zu rezipieren. Die Leseschwäche nimmt zu. Rund die Hälfte der 15-Jährigen in der Schweiz lese heute so schlecht, dass sie für den Alltag nicht ausreichend gewappnet seien. Das hat Folgen – beruflich wie demokratiepolitisch.

Carl Bossard

Wir wissen es schon lange, doch wir verdrängen es. Die NZZ am Sonntag machte es vor Kurzem wieder publik: Die Lesefreude nimmt bei den Schweizer Jugendlichen ab – ebenso wie die Lesefähigkeit generell. Seit Jahren sinkt sie. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelt damit unter dem Durchschnitt und klar hinter Nachbar Deutschland! Die Gruppe derer, die einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen nicht herstellen können, wuchs auf 24 Prozent. Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISA-Studie. Er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Das ist besorgniserregend. Auch demokratiepolitisch. Lesen bleibt der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und unserer Demokratie.

Die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen
Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener, das intensive Lesen nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachtrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute, ebenso Social-Media-Kanäle wie Tiktok. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen.

Dass vieles so leicht zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nicht alltäglichen Sprache, des differenzierenden Diskurses ist für manche Schülerinnen und Schüler eine unvertraute Gegend. Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für sie zur Schwerstarbeit, die Aufgabe einer nuancierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Das Unbehagen am Lesen steigt. Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen und ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen – und sie darin trainieren. Die Freude am Lesen kommt mit dem Können. Es ist eine Überbrückungsarbeit zwischen den Schülerhorizonten und dem elementaren Bildungsauftrag der Schule. Dies nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Hier liegt eine der ganz wichtigen Aufgaben der Schule. Auch in demokratiepolitischer Hinsicht. Lesekompetenzen und Formen des Lesens sind keine Relikte eines analogen Zeitalters.

Wenn die Aufgabenfülle zunimmt, reduziert sich die Übungszeit
Nicht «mehr und Zusätzliches» wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen spürbaren Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht. Dieser Auftrag braucht Zeit. Doch sie fehlt. An der Schule muss zu vieles gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch, die ganze Integration und anderes mehr. Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Lehrerinnen und Lehrer kommen deutlich weniger zum Üben. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt auch für die grundlegende Kulturtechnik des Lesens.

Get the fundamentals right, the rest will follow!
Vertieftes und konzentriertes Lesen oder «deep reading», wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden. Aus Sicht der Wissenschaft zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien. Dazu schreibt Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: «Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre, eine Renaissance des Leseunterrichts, und zwar im Kern des Curriculums, mit Lektürestunden in jeder Schulart und in jedem Schulfach.» Es ist das alte Postulat: «Get the fundamentals right, the rest will follow.» Auf die guten Grundlagen kommt es an!